JEOD LANGHACHSE

Wäre Roran des Lesens mächtig gewesen, hätten ihn die vielen Bücher in den Wandregalen sicherlich beeindruckt. So hingegen richtete er sein ganzes Augenmerk auf den groß gewachsenen, grauhaarigen Mann hinter dem ovalen Schreibtisch. Jeod - Roran ging davon aus, dass er es war - sah so müde aus, wie Roran sich fühlte. Sein faltengefurchtes, trauriges Gesicht war von Sorgen gezeichnet, und als er sich zu ihnen umwandte, sah man die lange Narbe, die sich quer über seinen Kopf bis zur linken Schläfe zog. Für Roran zeugte sie davon, dass der Mann zumindest früher einmal ein harter Bursche gewesen sein musste.
»Setzt euch«, sagte Jeod. »Ich gebe nichts auf Förmlichkeiten in meinem Haus.« Er musterte sie aus neugierigen Augen, während sie auf den weichen Ledersesseln Platz nahmen. »Darf ich euch Gebäck und ein Glas Branntwein anbieten? Ich habe nicht viel Zeit, aber wie ich sehe, wart ihr lange unterwegs, und ich kann mich noch gut erinnern, wie ausgedörrt meine Kehle nach langen Reisen immer war.«
Loring grinste. »Gute Idee. Ein Schluck Branntwein wäre nett. Ihr seid sehr großzügig, Herr.«
»Aber mein Junge bekommt ein Glas Milch«, sagte Birgit.
»Natürlich.« Jeod läutete nach dem Diener, bat ihn, das Gewünschte zu bringen, und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. »Ich bin im Nachteil. Ihr scheint meinen Namen ja zu kennen, aber ich weiß nicht, wer ihr seid.«
»Ich bin Hammerfaust, Euch zu Diensten«, sagte Roran.
»Mardra, Euch zu Diensten«, sagte Birgit.
»Kell, Euch zu Diensten«, sagte Nolfavrell.
»Und ich bin Wally, Euch zu Diensten«, stellte Loring sich als Letzter vor.
»Schön«, entgegnete Jeod. »Also, Rolf sagte, ihr wollt mit mir ins Geschäft kommen. Dazu müsst ihr allerdings wissen, dass ich mich nicht in der Position befinde, Waren kaufen oder verkaufen zu können, und ich habe auch kein Gold, das ich investieren könnte, und auch keine stolzen Schiffe, die Wolle, Lebensmittel und Gewürze über das wogende Meer transportieren. Was kann ich also für euch tun?«
Roran stützte die Ellbogen auf die Knie, schob die Finger ineinander und starrte zwischen ihnen hindurch, während er seine Gedanken ordnete. Ein falsches Wort kann uns umbringen, ermahnte er sich. »Einfach ausgedrückt, Herr, repräsentieren wir eine Gruppe von Leuten, die aus verschiedenen Gründen eine große Menge an Vorräten für sehr wenig Geld kaufen müssen. Wir wissen, dass Euer Besitz übermorgen versteigert wird, damit Ihr Eure Schulden zurückzahlen könnt, und wir würden gerne jetzt schon auf die Dinge bieten, die wir benötigen. Wir hätten gerne bis zur Versteigerung gewartet, aber wir stehen unter Zeitdruck und können keine zwei Tage ausharren. Wenn wir einen Handel abschließen wollen, muss es heute oder spätestens morgen geschehen.«
»Welche Art Vorräte benötigt ihr denn?«
»Lebensmittel und alles andere, was man für eine lange Schiffsreise braucht.«
In Jeods müdem Gesicht blitzte Interesse auf. »Denkt ihr dabei an ein bestimmtes Schiff? Ich kenne nämlich jedes, das in den letzten zwanzig Jahren diese Gewässer befahren hat.«
»Wir haben uns noch nicht entschieden.«
Jeod akzeptierte die Antwort, ohne weitere Fragen zu stellen. »Jetzt verstehe ich, warum ihr gerade zu mir gekommen seid, aber ich fürchte, ihr unterliegt einem Missverständnis.« Er breitete die Arme aus und deutete auf das Zimmer. »Alles, was ihr hier seht, gehört nicht mehr mir, sondern meinen Gläubigern. Mir ist untersagt, meinen Besitz zu veräußern, und falls ich es ohne Erlaubnis doch täte, würde man mich wahrscheinlich ins Gefängnis werfen, weil ich meine Gläubiger um das ihnen zustehende Geld betrogen hätte.«
Jeod hielt inne, als Rolf mit einem großen Silbertablett ins Zimmer kam und das Gebäck und die Getränke servierte. Roran nahm seinen Kelch entgegen und nippte an dem weichen Branntwein. Er fragte sich, wann die Höflichkeit es ihnen erlaubte, sich zu entschuldigen und ihre Suche woanders fortzusetzen.
Als Rolf das Zimmer verließ, stürzte Jeod sein Glas in einem Zug hinunter und sagte: »Ich kann zwar nichts für euch tun, aber ich kenne einige Leute in meinem Gewerbe, die euch vielleicht -vielleicht - weiterhelfen könnten. Wenn ihr mir genauer erklärt, was ihr braucht, könnte ich euch sagen, an wen ihr euch wenden müsst.«
Roran sah keine Gefahr darin, deshalb begann er aufzuzählen, was die Dorfbewohner unbedingt haben mussten, was sie gut gebrauchen konnten und was sie gerne hätten, sich aber niemals würden leisten können, solange das Schicksal ihnen keine Kiste Gold vor die Füße warf. Ab und an nannten Birgit und Loring etwas, das Roran vergessen hatte, zum Beispiel Lampenöl, woraufhin Jeod die beiden kurz ansah und dann seinen bohrenden Blick wieder auf Roran richtete; ihm galt sein Hauptinteresse. Es war, als wüsste oder vermutete der Händler, was Roran vor ihm verbarg.
»Mir scheint«, sagte Jeod, nachdem Roran alle gewünschten Waren aufgezählt hatte, »dass die Dinge, die ihr benötigt, ausreichen würden, um mehrere hundert Menschen von Feinster nach Aroughs zu bringen... oder noch weiter. Zugegeben, ich war in den letzten Wochen sehr beschäftigt, aber von einer so großen Reisegruppe hätte ich gehört, und ich kann mir auch nicht vorstellen, wo diese Leute hergekommen sein sollten.«
Mit ausdrucksloser Miene traf Roran Jeods starrenden Blick. Innerlich schalt er sich dafür, dem Händler so viele Informationen gegeben zu haben, dass er diese Schlussfolgerungen hatte ziehen können.
Jeod zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer, das ist eure Sache. Ich schlage vor, dass ihr wegen der Lebensmittel zu Galton in der Marktstraße geht und wegen der anderen Sachen zu Hamill unten am Hafen. Sie sind beide ehrliche Männer und werden euch gute Preise machen.« Er beugte sich vor, nahm ein Gebäckstück vom Tablett und biss hinein. Als er den Happen hinuntergeschluckt hatte, fragte er Nolfavrell: »Und, mein junger Kell, gefällt es dir in Teirm?«
»Ja, Herr«, sagte Nolfavrell und grinste. »Ich habe noch nie so eine große Stadt gesehen.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Herr. Ich -«
Roran spürte, dass sie sich auf gefährliches Terrain zu begeben drohten und wechselte rasch das Thema. »Herr, was hat es eigentlich mit dem Laden neben Eurem Haus auf sich? Es scheint seltsam, zwischen all den prächtigen Häusern so ein einfaches Geschäft zu finden.«
Zum ersten Mal erhellte ein - wenn auch vages - Lächeln Jeods Züge und ließ ihn um Jahre jünger erscheinen. »Es hat einer Frau gehört, die selbst ein bisschen seltsam ist: Angela, die Kräuterheilerin, eine der besten, die ich kenne.« Er seufzte. »Schade, dass sie fortgezogen ist. Sie war eine interessante Nachbarin.«
»Das ist doch die Frau, nach der Gertrude sucht, oder?«, fragte Nolfavrell und schaute zu seiner Mutter auf.
Roran verkniff sich einen Fluch und warf Nolfavrell einen warnenden Blick zu, der so intensiv war, dass der Junge in seinem Ledersessel zusammensank. Der Name würde Jeod nichts sagen, aber wenn Nolfavrell nicht seine Zunge hütete, würde er bestimmt noch etwas ausplappern und großen Schaden anrichten. Es ist Zeit zu gehen, dachte Roran. Er stellte seinen Kelch ab.
Da sah er, dass der Name Jeod doch etwas sagte. Die Augen des Händlers weiteten sich vor Überraschung, und er packte die Armlehnen seines Stuhls, bis seine Fingerspitzen knochenbleich wurden. »Das kann doch nicht sein!« Jeod starrte Roran an, studierte sein Gesicht, als versuchte er, es sich ohne Bart vorzustellen, und dann hauchte er entgeistert: »Roran... Roran Garrowsson.«

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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